Quantcast
Channel: Schwäbische: Feeds: Trossingen
Viewing all articles
Browse latest Browse all 8808

"Das sind unsere Befreier"

$
0
0

Leutkirch / sce - 8. Mai 1945: Deutschland erklärt die bedingungslose Kapitulation, der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Ein historisches Datum, an das sich die Welt auch heuer wieder erinnert. 70 Jahre sind seitdem vergangen, doch die Ereignisse jener Tage und Wochen sind vielen Zeitzeugen bis heute unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Das beweisen die Berichte unserer Leser, die sich auf einen entsprechenden Aufruf der Schwäbischen Zeitung gemeldet haben. Wir haben mit ihnen gesprochen und geben ihre Erinnerungen in einer kleinen Serie wieder.

Aus dem Schlaf geweckt

"Mitten in der Nacht läuteten alle Glocken in Leutkirch. Sehr laut und sehr lang." Wiltrud Ehrlenspiel wurde von diesem ungewöhnlichen Läuten aus dem Schlaf geweckt, genauso wie die vielen anderen Evakuierten, die sich das Haus in der damaligen General-Sproesser-Straße (heute Lindenstraße) teilten. Es war die Nacht zum 8. Mai 1945, und einer jungen Frau im Haus war sofort klar: "Der Krieg ist zu Ende!" Dass sie noch hinzufügte: "Und wir gehören zu den Überlebenden", hat Wiltrud Ehrlenspiel ganz besonders beeindruckt. Zwölf Jahre war sie damals, ein Kind, das knapp zwei Jahre zuvor aus Stuttgart ins vergleichsweise friedliche Allgäu geschickt worden war. Bei ihrer Großtante in der General-Sproesser-Straße waren nicht nur ihre Vettern untergebracht, sondern auch einige Evakuierte aus der Pfalz und eine junge Kriegerwitwe samt Kind aus Stuttgart.

"Mir ist es nicht schlecht gegangen in dieser Zeit", erinnert sich die heute 82-Jährige. "Aber die Buben aus der Wagenburgoberschule waren schon arm dran." Ganze Klassen von Stuttgarter Schülern mit ihren Lehrern waren seinerzeit in Leutkirch untergebracht, Zehn- und Elfjährige, die bei fremden Leuten einquartiert und seit dem Schuljahr 1943 hier unterrichtet wurden. Weil die Leutkircher Oberschule (heutige) Adenauerschule von SA oder SS besetzt war, musste der Schulunterricht in verschiedenen Gasthäusern stattfinden, "zum Beispiel im Mohren, im Lamm oder auch im (sehr engen) Wartesaal im Bahnhof", wie Wiltrud Ehrlenspiel berichtet.

"Laufend Fliegeralarm"

Vom 23. April 1945 an gab es allerdings keinen Schulunterricht mehr, "nur laufend Fliegeralarm". Und eine andere Aufgabe für die Kinder, die da hieß: "anstehen". Als "Sonderzuteilung ohne Geld" verteilte die Stadt in diesen letzten Kriegstagen Lebensmittel: "Käse, Brot, Fleisch, Gemüse aus Konservendosen", erinnert sich die ehemalige Hauswirtschaftslehrerin. Am 25. April habe dann "Aufruhr am Rathaus" im Zusammenhang mit der Verteidigung der Stadt geherrscht, außerdem gab es "Fliegeralarm und eine Schießerei".

Auch an den 27. April 1945 erinnert sich Wiltrud Ehrlenspiel noch genau: "Zwei Häuser haben gebrannt, die SS hat zwei Männer erschossen und fünf verhaftet. Darunter der Ortsgruppenleiter und der Stadtpfarrer Kästle." Bei den Erschossenen handelte es sich um Josef Luz und Michael Maischberger, die die Panzersperren in der Memminger Straße entfernt hatten. Auch in der General-Sproesser-Straße gab es eine Panzersperre aus Baumstämmen. Für die Kinder ein Spielzeug, an dem man wunderbar herumklettern konnte. Eines Tages allredings waren die Stämme verschwunden. "Unser Glück", sagt Ehrlenspiel heute, "sonst hätten die Franzosen reingeschossen".

Wegen Raketengefahr waren am 28. April alle Hausbewohner im Keller – "bis die Franzosen kamen, uns da unten fanden, hinaufschickten und beschlossen, in diesem Haus wohnen zu wollen". So hat es die Zeitzeugin notiert, und sie weiß auch noch ganz genau, dass man nicht nur enger zusammenrücken musste im Haus, sondern auch durchaus Angenehmes erleben konnte: Die Franzosen kochten in der Küche der Großtante, und das Mädchen durfte die Bratpfanne und den Topf ausschlecken: "Mit Fett gebratene Kartoffelreste und mit Butter angereicherter Kartoffelbrei – so was Gutes habe ich seit langem nicht mehr gegessen." Heute noch wundert sich Wiltrud Ehrlenspiel über den Weitblick, den sie schon als Zwölfjährige hatte: Während andere in ihrer Umgebung von den Franzosen als Feinden sprachen, erwiderte sie schon im Mai 1945: "Nein, das sind unsere Befreier!"


Viewing all articles
Browse latest Browse all 8808