Leutkirch / sz - Zwei außergewöhnliche Unterrichtsstunden haben Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen neun, zehn und elf des Hans-Multscher-Gymnasiums (HMG) am Montag erlebt: Thomas Walther, Nebenklagevertreter im gerade zu Ende gegangenen Prozess gegen den früheren SS-Unterscharführer Oskar Gröning, war zu Gast in Leutkirch. Walthers Tochter arbeitet als Referendarin am HMG und hatte die Anregung gegeben.
Sonnenschein, blauer Himmel, die Vögel zwitschern – über dem Schulgelände liegt die fröhliche Leichtigkeit eines Kinderfestmontags in Leutkirch. Eine Leichtigkeit, die so gar nicht passen mag zur düster-traurigen Thematik drinnen im Cubus. Und doch: Die Stühle sind praktisch komplett besetzt, als der Mann mit den weißen Locken ans Mikrophon tritt und eineinhalb Stunden lang von den dunkelsten Kapiteln deutscher Geschichte berichtet – und den späten Versuchen der Justiz, diese aufzuarbeiten.
Thomas Walther, 72 Jahre alt, ehemaliger Richter und jetzt Rechtsanwalt in Kempten, hat im Fall John Demjanjuk ermittelt und jüngst 51 Nebenkläger im Lüneburger Prozess gegen Oskar Gröning vertreten. Vier Jahre Haft wegen Beihilfe zum 300000-fachen Mord – so lautete bekanntlich das Urteil gegen den 94-Jährigen.
Statt den Ruhestand anzutreten, hat Thomas Walther vor neun Jahren seine Arbeit in der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen aufgenommen, und seitdem lässt ihn das Thema nicht mehr los.
Ein Thema, das er den Schülern in seiner ganzen Dramatik deutlich macht. Etwa, wenn er vom Juli 1944 spricht, als im Rahmen der "Ungarn-Aktion" fast eine halbe Million ungarischer Juden nach Auschwitz gebracht wurden: "In Viehtransportern, 80 Menschen in einem Wagen, in einem glühend heißen Sommer." Ganz still ist es im Cubus, als Walther von der "Hölle" in den Waggons spricht, wo die Menschen "Leib an Leib" standen und viele im Stehen gestorben sind.
NS-Gefolgsleute wie Oskar Gröning schauten zu, als 5000 bis 8000 Juden täglich in Auschwitz ankamen und an der Rampe nach links (zur Tötung) oder rechts (zur Arbeit) getrennt wurden und listeten fein säuberlich die Zahl der mitgebrachten Gepäckstücke auf. "Das industriell betriebene Morden wäre nicht möglich gewesen ohne Mitmacher wie Oskar Gröning", sagt Walther.
In Kanada und den USA hat er mit Überlebenden gesprochen, die bis zu 50 Familienmitglieder verloren haben. Die "das Überleben überlebt" haben und deshalb seitdem mit Schuldgefühlen kämpfen. Dass in den mehr als 70 Jahren, die seit den Gräueltaten in Auschwitz, Treblinka oder Sobibor vergangen sind, nur wenige Handlager des Holocaust vor Gericht standen, kommentiert der Jurist so: "Die deutsche Rechtssprechung hat über viele Jahre völlig versagt." Tendenzen, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, hält er seine Erfahrungen als Nebenklagevertreter entgegen: Nicht nur "Befriedung und Gesundung im Inneren" hat er erlebt, sondern vor allem dies: "Die Nebenkläger haben ihren Verstorbenen, den Opfern, Gesicht und Stimme gegeben. Das waren große Momente."
"Mit Befremden" hätten die Nebenkläger dagegen die Aktion der Holocaust-Überlebenden Eva Kor aufgenommen, antwortete Walther auf eine aus dem Publikum. Kor hatte Gröning demonstrativ die Hand zur Vergebung gereicht, "eine plakative Verzeihenszeremonie", wie der Anwalt findet.
Die meisten Schülerinnen und Schüler schweigen, als sie den Cubus verlassen. Die Schilderungen haben ihnen Geschichte vermittelt, die Jahrzehnte entfernt und doch noch immer nicht aufgearbeitet ist. Walthers Worte sind ihnen unter die Haut gegangen. "So habe ich das eigentlich noch nie gehört", äußerte sich eine Schülerin beim Hinausgehen nachdenklich.