Leutkirch / sz - Oberbürgermeister Hans-Jörg Henle sieht in der Flüchtlingsbetreuung die große Herausforderung der kommenden Monate, ja Jahre. "Die Lage ist nicht mehr so kommod", sagte er im Interview mit der "Schwäbischen Zeitung". Auch die Stadt müsse zusätzliche Mittel bereitstellen, um Wohnraum zu schaffen. Ende Oktober wird der Kreis in der Sporthalle der Geschwister-Scholl-Schule eine Notunterkunft mit etwa 200 Plätzen einrichten. Mit Henle sprachen Teresa Winter und Herbert Beck.
Herr Oberbürgermeister, demnächst werden weitere 200 Flüchtlinge nach Leutkirch vorübergehend in die Sporthalle der Geschwister-Scholl-Schule kommen. Wie nehmen Sie die Stimmung in der Bevölkerung wahr?
Mich beeindruckt, dass sich Leutkirch als offene Stadt zeigt, dass ein gutes Verhältnis herrscht zwischen den unterschiedlichen Menschen und Kulturen, die in unserer Stadt leben. Wir haben auch ein sehr gutes Miteinander zwischen den christlichen Kirchengemeinden und der islamischen Gemeinde. Das alles bildet sehr gute Grundlagen dafür, auch mit den nächsten Herausforderungen klar zu kommen.
Ist noch ausreichend Verständnis für das Los der Flüchtlinge spürbar?
Bislang wird alles sehr unaufgeregt und sehr sachlich angegangen. Das bekomme ich auch zurückgespiegelt aus den Äußerungen des Arbeitskreises Asyl. Während der letzten großen Flüchtlingswelle anfangs der 90-er-Jahre hatte sich der Arbeitskreis allein gefühlt. Jetzt sind wir gemeinsam unterwegs. Wir stehen eng zusammen.
Wie belastbar ist diese Grundstimmung?
Mit den neuen Flüchtlingen wird die Herausforderung eine neue Größenordnung bekommen. Die Neuankömmlinge sollen ja nicht nur gut untergebracht sein. Da erreichten mich auch sorgenvolle Fragen aus der Bevölkerung, ob das alles noch zu schaffen ist. Wo führt das hin? Mit welchen Einschränkungen müssen wir in Leutkirch rechnen? Können unsere Kinder noch Schulsport machen? Diese Fragen sind alle berechtigt und wir nehmen sie ernst. Wir müssen gemeinsam überzeugende Antworten darauf finden.
Vorrangig geht es um die Grundversorgung, um die Verpflegung, um Sicherheit. Wie ist da der Stand?
Bei der Notunterkunft in der Kreissporthalle steht der Landkreis besonders in der Pflicht. Er hat sich mit allen Gruppierungen in der Stadt auch schon in Verbindung gesetzt. So wird nach dem jetzigen Stand die Grundversorgung vom Stephanuswerk in Isny übernommen. Auch den Sicherheitsdienst wird der Kreis organisieren.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Leutkirch war eine der ersten Kommunen im Kreis, die beschlossen hat, die Sozialarbeit für die Erstunterbringung von Flüchtlingen mit eigenem Personal anzugehen. Dabei bleibt es. Für die hauptamtliche Betreuung der Flüchtlinge, die in die Notunterkunft einziehen werden, ist der Landkreis verantwortlich. Aber wir müssen klären, wie wir uns zusätzlich einbringen können. Deshalb planen wir auch vor dem Eintreffen der ersten Flüchtlinge einen Informationsabend in der kommenden Woche. In Zusammenarbeit mit dem Landratsamt, mit der beruflichen Schule, mit dem Arbeitskreis Asyl, den Kirchen und dem Moscheeverein und unserer Volkshochschule wollen wir weitere ehrenamtliche Helferinnen und Helfer für diese wichtige Aufgabe gewinnen.
Klar ist, dass insbesondere im Schul- und Vereinssport Einschränkungen nötig sein werden. Wie kann das ausgeglichen werden?
Natürlich freut sich niemand über die Einschränkungen. Wir prüfen gerade, welche Kapazitäten wir in anderen Hallen als Ersatz für den Pflichtunterricht anbieten können. Der Unterricht an den gymnasialen Oberstufen und am Motorik-Zentrum in der Geschwister-Scholl-Schule muss gewährleistet sein, andernfalls wären das Abitur oder entsprechende Ausbildungsnachweise gefährdet. Wir müssen auch für den weiteren Sportunterricht Lösungen finden und die Interessen der Vereine berücksichtigen. Es wird jetzt eine Stufe erreicht, wo es nicht mehr so kommod verläuft wie bisher. Das muss man klar sagen.
Kernstadt und Ortschaften sind gefordert, Wohnraum für länger im Land bleibende Flüchtlinge zu schaffen. Können Sie dem Gemeinderat schon Zahlen präsentieren?
Wir ermitteln derzeit auf Hochtouren die Kosten für die Instandsetzung leerstehender städtischer Wohnungen und für die Ausschöpfung vorhandener Raumkapazitäten in unseren Obdachlosenunterkünften. Ich rechne für die Maßnahmen, für die wir zuständig sind, mit einem Finanzbedarf in der Größenordnung von rund 200000 Euro. Das können aber auch 50 000 Euro mehr oder weniger sein.
Wie viele Unterkunftsplätze können Sie damit bereitstellen?
Wir schätzen, dass damit bis zu 100 Unterbringungsplätze zur Verfügung gestellt werden können. Allerdings müssen wir für jede Umbau- oder Sanierungsmaßnahme genau prüfen, ob sich der Aufwand lohnt. Letztlich muss ja auch der Gemeinderat abwägen, welche Investition Sinn macht und welche nicht. Auch dafür bietet sich ein Stufenplan an. Die Lage kann ja in einem Jahr wieder ganz anders aussehen. Alles ist in Bewegung. Wir prüfen fast täglich auch Angebote, die von privater Seite an uns herangetragen werden.
In der politischen Diskussion haben die Kommunen mehrfach beklagt, Bund und Land kämen ihren Verpflichtungen nicht nach. Was erwarten sie für die Zukunft?
Ich hatte schon das Gefühl, dass auf Landes- und Bundesebene das Thema zu lange unterschätzt worden ist. Wenn der Bund die Dauer der Asylverfahren beschleunigen will, muss man so eine Aufgabe angehen und nicht monatelang darüber diskutieren. Auch das Thema sozialer Wohnungsbau brennt. Die vom Bund für die Jahre 2016 bis 2019 zusätzlich in Aussicht gestellten 500 Millionen Euro pro Jahr sind für ganz Deutschland viel zu wenig. Es geht ja nicht nur um Flüchtlinge sondern auch um andere Bedürftige mit geringem Einkommen. Man muss an beide Gruppen denken.
Was hätte das Land besser und schneller leisten können?
Es gibt in Stuttgart ein Integrationsministerium, von dem wir Kommunen kaum konkrete Hilfe erfahren. Derzeit erstellen viele Kommunen mit großem Aufwand Informationsbroschüren mit Regeln für die Flüchtlinge und Informationen über die bei uns geltenden Werte. So etwas könnte das Land viel effizienter für alle Kommunen leisten. Die größte Herausforderung ist doch, wie wir die Flüchtlinge integrieren können. Wir müssen Werte einfordern, die für das Leben in Deutschland unverzichtbar sind. Da geht es um die Würde des Menschen, um die Gleichberechtigung von Frau und Mann und um Religionsfreiheit. Das vermitteln aus der Not heraus die Kommunen. Dazu haben wir in Leutkirch auch schon Regelabende veranstaltet, um Spannungen gar nicht aufkommen zu lassen. Der Fehler bei den Integrationsbemühungen in der Vergangenheit war doch, dass man geglaubt hat, die Menschen seien nur befristet da. Eine Fehleinschätzung, die sich nicht wiederholen darf.
Zur gelungenen Integration gehört auch die Chance, Arbeit zu finden. Wie stark ist die Bereitschaft der Betriebe in Leutkirch, sich einzubringen?
Es gibt einige sehr ermutigende Beispiele von Asylbewerbern, die Arbeit gefunden haben. Das ist ein wichtiges Zeichen und zeigt mir, dass unsere Bemühungen zur Integration von Flüchtlingen in den lokalen Arbeitsmarkt Früchte tragen. Unsere hauptamtlichen Sozialarbeiter und die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer leisten da ausgezeichnete Vermittlungsdienste. Aber nicht alle Flüchtlinge sind Ärzte oder Ingenieure, die zumindest gut englisch sprechen. Die Sprache ist der Schlüssel für die Integration. Dafür müssen Ideen und staatliche Mittel bereitstehen.
Ihr OB-Kollege Daniel Rapp aus Ravensburg fordert vor dem Hintergrund der Belastung durch Flüchtlinge anstatt des "Soli" einen "Kommunali". Tragen sie so eine Forderung mit?
Allzu oft haben wir Kommunen in der Vergangenheit gespürt, dass wir die letzte Ebene im staatlichen Gefüge sind, obwohl wir vor Ort die Arbeit leisten müssen. Deshalb ist es richtig, auf eine klare finanzielle Regelung zu drängen. Ob man nun einen "Kommunali" einführt oder dies über allgemeine Steuermittel finanziert, ist letztendlich egal. Aber klar ist, dass die Integration nicht so nebenher zu machen ist. Wir müssen uns um die Kinder kümmern. Wir werden in Kindergärten und Schulen wieder mehr Plätze benötigen, wir müssen Deutschkurse anbieten, gerade auch für die Erwachsenen. Und wir brauchen Flächen für den Wohnungsbau. Wenn das Ziel ist, so wie es in Baden-Württemberg unter Grün-Rot immer noch gilt, für Wohn- und Gewerbeansiedlungen kein weiteres Land mehr zu opfern, dann wird das alles nicht klappen. Die Situation hat sich geändert. Da muss die große Politik in der Realität ankommen. Bund und Länder dürfen die Kommunen nicht im Regen stehen lassen.