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Das „Teufelskind“ leidet bis heute

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Leutkirch / sce - Die schrecklichen Erinnerungen haben sich für immer in ihr Gedächtnis eingegraben. Ganz tief und zugleich bedrohlich nah. Als Brigitte K. (Name geändert. d. Red.) Ende letzten Jahres in der SZ von den Missbrauchsvorwürfen eines ehemaligen Schülers des Kinderheims St. Anna gegen einen früheren Leutkircher Pfarrer las, da brachen sie wieder auf, all die alten Wunden. "Ich bin auch missbraucht worden, von einem anderen Heimkind", erzählt sie stockend. Und, mindestens genauso schlimm: "Wir wurden von den Nonnen laufend geschlagen. Man hat uns ständig Angst gemacht." Bis heute leidet Brigitte K. unter diesen Erlebnissen, und sie beschließt, jetzt endlich davon zu erzählen. Dass die Situation in St. Anna heute eine komplett andere ist, weiß sie aus eigener Erfahrung.

"14 Jahre und 20 Tage"– haargenau kann Brigitte K. vorrechnen, wie lange sie im Kinderheim St. Anna gelebt hat. Es war der 6. Juni 1968, als sie und vier ihrer Geschwister von Mitarbeitern des Jugendamts abgeholt und vom Schussental nach Leutkirch gebracht wurden. Vier Jahre war sie damals alt, die Jüngste in ihrer Familie – einer Familie, in der es viele Probleme gab. Dennoch: Die gewaltsame Trennung von der Mutter ist für das Kind ein furchtbares Erlebnis. Schon gleich beim ersten Mittagessen ("Kartoffeln, Spinat und Spiegeleier") in St. Anna hat es Schläge gesetzt. "Sobald ich an die Schwestern denke, bekomme ich Gänsehaut", sagt die 50-Jährige noch heute. "Wir wurden an den Haaren gezogen, mit dem Ofenputzer und den bloßen Fäusten geschlagen."

"Teufelskind" wurde Brigitte K. genannt, weil sie ihren leiblichen Vater nicht kannte – eine furchtbare Vorstellung für ein kleines Mädchen. Doch es gab noch viel mehr Schikanen: "Wir durften nie auf die Toilette gehen, und wer’s dann nicht halten konnte, wurde wieder geschlagen." Stundenlanges "In-die-Ecke-Stehen", Nächte in der Besenkammer oder auf dem nackten Boden im Bad, wenn man mal im Schlafraum miteinander geflüstert hatte. Erbrochenes, das wieder gegessen werden musste. Und: Jeden Tag hieß es um 4.30 Uhr aufstehen und "putzen, putzen, putzen. Alles musste immer picobello sein." Die Folge: "Noch heute leide ich unter einem Putzwahn."

"Wer ins Bett machte, bekam ab 16 Uhr nichts mehr zu trinken"

Bis sie acht oder neun Jahre alt war, hat Brigitte K. eingenässt. Dabei galt die eiserne Regel: "Wer ins Bett machte, bekam ab 16 Uhr nichts mehr zu trinken." Als sie auch an einem glühend heißen Sommertag nichts zu trinken bekommt, alle anderen beim Baden sind und sie im Garten alleine Beeren ernten soll, haut Brigitte K. ab. 16 ist sie, fährt mit dem Fahrrad bis nach Ravensburg – und muss schließlich doch wieder zurück ins Heim. Erst 1982 ist ihre Leidenszeit vorbei, und die 18-Jährige fängt in einem Haushalt in Ravensburg an zu arbeiten. Schon damals beginnen ihre gesundheitlichen Probleme – Probleme, die sie durch ihr weiteres Leben begleiten sollten. Seit gut zwei Jahren ist sie in psychiatrischer Behandlung, "aber in zwei Jahren kann man nicht 14 Jahre und 20 Tage aufarbeiten", sagt sie. Und fügt an, dass sie von anderen ehemaligen Heimkindern weiß, die psychisch krank sind, Drogen nehmen oder gar Selbstmord begangen haben.

Wie mehrfach berichtet, war es von Mitte des vergangenen Jahrhunderts bis in die 1980er-Jahre auch in St. Anna zu Misshandlungen durch Schwestern der Kongregation der Vinzentinerinnen aus Untermarchtal gekommen. 1990 verließen die Schwestern die Einrichtung aus Altersgründen. Sexuelle Vergehen eines inzwischen verstorbenen ehemaligen Leutkircher Pfarrers an einem Heimkind hat die Diözese Rottenburg-Stuttgart bestätigt und zugleich auf die einvernehmliche Regelung mit dem Opfer hingewiesen. Die Vorwürfe sieht man in St. Anna heute auch als Chance: "Wir können in der Öffentlichkeit darstellen, was wir alles tun, damit das nie mehr passiert", hatte der stellvertretende Stiftungsvorstand und Bereichsleiter für die Wohngruppen, Jochen Narr, die SZ schon im Dezember wissen lassen. Mitarbeiterschulungen über Nähe und Distanz gehörten heute ebenso zum Selbstverständnis der Einrichtung wie eine offene Kommunikation, klar festgelegte Verfahrensabläufe und Schulungen zu Distanz und Nähe.

Eine andere Welt

Positive Entwicklungen, die auch Brigitte K. bestätigen kann. Als bei ihrem Sohn im Regelkindergarten eine fehlgesteuerte Motorik festgestellt und der Wechsel nach St. Anna empfohlen wurde, schrillten bei ihr erst einmal alle Alarmglocken. Unter größter Überwindung betrat sie 2001 die Einrichtung und kam "in eine andere Welt", wie sie sagt. Geborgenheit und Fürsorge, wo sie selbst Ablehnung und Gewalt erfahren hatte. Förderung und Betreuung statt Schikane: Elf Jahre lang gab es "nie ein böses Wort". Ihr Sohn sei "in guten Händen" gewesen, blickt sie dankbar zurück.

Sie selbst muss mit den Wunden ihrer Kindheit weiterleben. Lange hat sie versucht, alleine klarzukommen, stark zu sein für ihre Kinder. "Ich wollte ihnen all das geben, was ich selbst als Kind nicht bekommen habe." Inzwischen weiß sie, dass sie professionelle Hilfe braucht und nimmt sie auch in Anspruch. Die Therapie soll ihr helfen, mit dem Erlebten anders umzugehen, sagt sie. Mit der Angst, den Schmerzen an Körper und Seele und dem bitteren Gefühl: "Wir wurden nur benutzt."


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