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"Es gibt nichts, was wir nicht besprechen"

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Leutkirch / sz - Rechnungen, Liebeskummer, Alltagsprobleme: Wenn die Sozialarbeiter für Leutkirch, Aitrach und Aichstetten ihre Büroräume zur Sprechstunde öffnen, stehen die Asylbewerber meist schon Schlange. Sie haben Fragen, viele Fragen.

"Es geht um Geld, Krankenscheine, aber auch um Kleinigkeiten", sagt Elfriede Stindl. Ihre 40-Prozent-Stelle in der Flüchtlingsarbeit teilt die Sozialpädagogin auf die Gemeinden Aitrach und Aichstetten auf. Immer Dienstag- und Donnerstag-nachmittag sei sie dort – erst in Aichstetten, dann in Aitrach. "Wenn ich komme, werde ich immer freundlich begrüßt. Elfriede, how are you, fragen sie mich dann", erzählt Stindl. Englisch und Französisch sei die Sprache, in der sie sich mit den knapp 55Asylbewerbern unterhält. "Wir reden über das Einkaufen, kaputte Fahrräder, Busverbindungen, Backrezepte, kaputte Türen in der Unterkunft oder über die Liebe. Es gibt nichts, was wir nicht besprechen", sagt die Sozialpädagogin. Das Ziel dabei: Hilfe zur Selbsthilfe.

Denn da die Asylbewerber nur während ihrer Zeit in der vorläufigen Unterkunft betreut werden, sollen sie lernen, später in der Anschlussunterbringung selbst zurechtzukommen. Eine schwere Aufgabe. Neben fehlenden Sprachkenntnissen haben Asylbewerber oftmals andere Wertvorstellungen, kennen andere Regeln, andere Gesetze. "Manche haben eine regelrechte Ellenbogenmentalität. Sie sind laut und aufbrausend, weil sie es zu Hause in Afrika so vorgelebt bekommen haben", sagt Sozialarbeiter Julian Moik.

Das zu ändern, sei seine Intension. "Die Sozialbetreuung soll dabei helfen, den Asylbewerbern grundlegende Dinge wie Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Höflichkeit oder die Verkehrsregeln beizubringen", sagt er.

144 Flüchtlinge und 40 Obdachlose, die in Leutkirch in der Memminger Straße und in der Sudetenstraße untergebracht sind, betreut Moik gemeinsam mit seiner Kollegin Daniela Distler. Seit März sind die Sozialarbeiter bei der Stadt angestellt. Bezahlt werden sie hauptsächlich vom Landkreis Ravensburg. Denn, so schreibt es das Flüchtlingsaufnahmegesetz vor, die Landkreise müssen die Sozialarbeiter stellen. Eigentlich.

Als das Landratsamt der Stadt nämlich vorschlug, die Sozialarbeiterstelle in städtische Trägerschaft zu übernehmen, stimmte diese dem Angebot zu. Und da in den Pauschalen, die die Landkreise vom Land für die Flüchtlinge erhalten, auch Gelder für den Sozialarbeiter vorgesehen sind, werden die Sozialarbeiterstellen in Leutkirch vom Landkreis refinanziert. Die Restkosten übernehmen Stadt und die katholische Kirchengemeinde St.Martin. "Die 130-Prozent-Stelle teilt sich auf. 100 Prozent sind für die Flüchtlingsbetreuung und 30 Prozent für die Unterstützung der Obdachlosen", sagt Manuela Wacker-Günther von der Stadt. Moik habe eine 90-Prozent-Stelle, Distler eine 40-Prozent-Stelle. Ihr Büro befindet sich in der Sudetenstraße 17. Die Aufgaben, die die Sozialarbeiter übernehmen, seien vom Landkreis vorgeschrieben, so Wacker-Günther. Ebenso gebe es einen klar vorgegebenen Personal-Schlüssel. Dieser liege derzeit bei 1:134. Heißt: auf 134 Flüchtlinge kommt ein Sozialarbeiter. "In Leutkirch sind wir da schon etwas drüber", fährt Wacker-Günther fort. "Wenn, wie geplant, weitere Flüchtlinge kommen, müssen die Stellen angepasst werden."

Weil derzeit überall Sozialarbeiter gesucht werden, habe sie Angst, sagt Wacker-Günther, dass irgendwann keine qualifizierten Fachkräfte mehr zur Verfügung stehen.

Bereits jetzt könnten Distler, Moik und Stindl weitere Unterstützung brauchen. "Aber die Stellen müssen derzeit ausreichen", sagt Wacker-Günther. Umso wichtiger seien die Ehrenamtlichen, die sich um die Asylbewerber kümmern. "Denn die Sozialarbeiter können immer nur das Notwendigste tun. So sind zum Beispiel Einzelgespräche mit allen Asylbewerbern gar nicht möglich", fährt sie fort. Ehren- und Hauptamtliche arbeiteten Hand in Hand.

"Alles steht und fällt mit den Ehrenamtlichen", sagt Moik. Wie eng sie die Flüchtlinge betreuen, liege in deren Hand. Fest steht: Die Sozialarbeiter haben feste Arbeitszeiten. Rund-um-die Uhr-Betreuung gebe es nicht, sagt Wacker-Günther. "Aber wir machen, was wir können." So sitzt Moik beispielsweise jeden Morgen in seinem Büro. "Wenn ich nicht gestört werden möchte, hänge ich ein Schild raus, auf dem in allen Sprachen steht: bitte nicht stören", sagt er. Ansonsten sei er für alles mögliche zuständig. Ob Telefonate mit Konsulaten, Ehrenamtlichen oder Schulen – Moik kümmert sich darum. "Wenn einer nicht in die Schule kommt, muss ich schauen, was los ist", sagt er. Moik selbst kennt jeden Asylbewerber beim Namen. "Das gehört für mich zum Vertrauensaufbau", sagt er. Etwa die Hälfte komme regelmäßig bei ihm vorbei. "Manche haben mehr Bedarf, manche weniger", fährt Moik fort.

Wenn die Flüchtlinge in die Notunterkunft in der Turnhalle der Geschwister-Scholl-Schule einziehen werden, sind Moik, Distler und Stindl nicht involviert. "Das übernimmt der Landkreis", sagt Wacker-Günther. Trotzdem müssten weitere Ehrenamtliche gefunden werden. "Die Leute sind bei uns in der Stadt. Sie brauchen Hilfestellung", fährt sie fort. Die bisherigen freiwilligen Helfer seien bereits am Limit. "Mehr können sie nicht leisten", so Wacker-Günther. Was ihr wichtig ist: "Wir dürfen uns nicht einbilden, dass das ein vorübergehendes Problem ist. Deshalb müssen wir uns engagieren, die Leute kennenlernen und integrieren."

Moik setzt auf die Chancen und Potenziale der Asylbewerber. "Es gibt viele freie Ausbildungsplätze, zum Beispiel in der Altenpflege, die nicht besetzt werden können, weil den Beruf niemand mehr machen möchte."

Angst vor der Zukunft habe er nicht, so der Sozialarbeiter. "Das deutsche Volk hat schon mit viel schlimmeren Sachen kämpfen müssen, deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir das schaffen", sagt er. Und dennoch würde er sich wünschen, dass die Verfahrenswege im Land beschleunigt werden, "denn es gibt nichts schlimmeres für die Asylbewerber als jeden Tag zu warten, jeden Tag Angst zu haben".


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