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Bildung für Mädchen ist seine Mission

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Leutkirch / sz - Sie haben sich Afghanistan verschrieben – mit Leib und Seele. Seit fast 30 Jahren engagieren sich Reinhard Erös und seine siebenköpfige Familie für die Menschen am Hindukusch. Medizinisch, vor allem aber in Sachen Bildung: "Bildung für Mädchen ist die effizienteste und effektivste Form, ein Land voranzubringen", ist der 67-jährige Bundeswehrarzt und Friedensaktivist überzeugt. Denn, so sagte er beim 168. Talk im Bock am Montagabend im Leutkircher Cubus, gebildete Mütter sorgten dafür, dass aus ihren Söhnen "andere Männer" würden.

Angekündigt war ein Mann, der laut, bestimmend und streitbar sein könne. Einer, der auch mal eine Veranstaltung abbricht und das Publikum beschimpft, wenn ihm etwas missfällt. In Leutkirch präsentierte sich Reinhard Erös entspannter. Ein Grund dafür: Am Montagmorgen war Greta auf die Welt gekommen, das erste Enkelkind der Familie, wie Erös die rund 150 Zuhörer gleich zu Beginn wissen ließ.

"Einer, der sich gut aufregen kann"

Dennoch: Der Oberstarzt, Fallschirmjäger, ausgebildete Einzelkämpfer und Friedensaktivist aus der Oberpfalz ist kein Mann der leisen Töne. Sein Temperament ist bisweilen schwer zu zügeln. Was Moderator Andreas Müller zu der Frage veranlasst: "Sie sind einer, der sich gut aufregen kann. Ist das ein Stilmittel? Erös’ Antwort lautet kurz, knapp und ehrlich: "Ja!"

Nun mag es im Leben des 67-Jähren ja auch eine Vielzahl guter Gründe gegeben haben, sich aufzuregen. Der Medizinstudent Erös ärgert sich über die "linken Störer" der Physiologievorlesung, er organisiert Widerstand an der Uni und wird zum "Hochschulpolitiker". Der Militärarzt nimmt unbezahlten Urlaub, lässt sich in Krisengebiete, etwa nach Pakistan versetzen, arbeitet von dort aus in Afghanistan und sollte deshalb "aus der Bundeswehr rausgeschmissen werden – weil ich als Arzt den Menschen geholfen habe". Damals habe er gelernt: "Ich darf nicht nachgeben".

Vor allem nicht in seinem Engagement für Afghanistan, einem Land in dem "alles im Argen" liegt, das die höchste Kindersterblichkeit der Welt hat und das bis heute unter den jahrzehntelangen Kriegswirren leidet, wie er sagt.

Weil es in den 80er-Jahren am Hindukusch weder Ärzte noch Hilfsorganisationen gibt, zieht er mit Frau und vier kleinen Buben ins pakistanische Peschawar und bricht von dort aus zu gefährlichen Einsätzen auf: In den Höhlen der afghanischen Berge macht er "Primitivmedizin", wechselt aus Sicherheitsgründen alle zwei Tage den Standort – und kann doch nicht allen Patienten helfen. Der Tod eines kleinen Jungen, der ihm besonders ans Herz gewachsen war, lässt ihn erkennen: "Kinder sind ganz besonders betroffen vom Krieg." Erös gründet zusammen mit seiner Ehefrau Annette die "Kinderhilfe Afghanistan", die schnell zum Familienunternehmen wird: Alle fünf Kinder sind mittlerweile in die Arbeit eingebunden. Selbstverständlich, dass auch die in Leutkirch als Saalspende gesammelten 681 Euro der Organisation zugute kommen.

Einer Organisation, sagt Erös nicht ohne Stolz, die er mit zehn Freunden gestartet habe und die nun auf fast 30 000 Helfer zählen könne. Das ist wichtig in einem Land, in dem persönliches Vertrauen oberste Priorität besitze, in dem man mit den Leuten reden können müsse. Er selbt hat sich dieses Vertrauen als Arzt erworben und investiert es nun in sein Engagement für die Bildung.

30 Schulen wurden in den vergangenen 13 Jahren gebaut, 65 Lehrer unterrichten die afghanischen Kinder, wobei ein besonderes Augenmerk den Mädchen gilt. Zwölf Computerklassen bieten modernsten Standard, den Strom liefert eine Photovoltaikanlage, berichtet Erös im Cubus. Sogar eine Universität sei entstanden, unmittelbar in Schulnähe, damit auch Mädchen sie besuchen könnten. "Ein Juwel im Osten Afghanistans", findet der Gründer.

Sorge um die Zukunft des Landes

Allen positiven Entwicklungen zum Trotz: Wer Afghanistan so gut kennt wie Reinhard Erös, schaut mit Sorge in die Zukunft. Was Kriege und Krisen dem Land angetan haben, "das kann man nicht reparieren", beantwortet er eine entsprechende Zuhörerfrage. 1000 Milliarden Dollar Kriegskosten stünden gerade einmal 45 Milliarden für den Wiederaufbau gegenüber. Die Taliban sähen sich heute auf der Siegerstraße, hätten Kundus erst dieser Tage "mit 1000 Bogenschützen" erobert.

Dass der amerikanische Präsident Obama nicht nur den Drohnenkrieg in Afghanistan in den vergangenen Jahren verfünfzehntfacht habe, sondern jüngst auch ein ziviles Krankenhaus über Stunden unter Beschuss genommen habe – gezielt und über Stunden hinweg – nennt Erös "das schlimmste Kriegsverbrechen der Nato seit 1949".

Kein Wunder deshalb, dass Erös sich einmal mehr aufregt, ja aufregen muss. In Leutkirch scheint man den Mann zu verstehen – und verabschiedet ihn mit viel Applaus.


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