Aktueller ist es kaum gegangen: WDR-Redakteur Stephan Stuchlik hat die Ukraine-Krise in die Leutkircher Festhalle gebracht. Beim 155. Talk im Bock sprach er mit Raimund Haser aber auch über Fallstricke für Berichterstatter und ein wenig über Fußball.
Etwa 100 Zuhörer haben am Montag einen überlegt aber auch unterhaltsam erzählenden Auslandskorrespondenten erlebt, der das so komplizierte wie hochgefährliche politische Gefüge in der Ukraine aufzuschlüsseln versteht. Stuchlik kennt als ehemaliger Moskau-Korrespondent der ARD die Hintergründe wie kaum einer. „Pure Verzweiflung“ habe die Menschen dazu gebracht, auf dem Maidan in Kiew zu demonstrieren, „sie wollten die herrschende Klasse loswerden“. Die Ukraine sei ein Land, das bis zuletzt politisch und wirtschaftlich ausgebeutet wurde, beantwortet Stuchlik Hasers zentrale Frage nach dem Warum. „Egal wer an der Regierung war, sie haben sich alle bereichert.“ Dass Tausende für ein EU- Assoziierungsabkommen auf die Straße gegangen sind, erklärt er damit, dass die darin enthaltenen Auflagen einen Weg gewiesen hätten, mit der Korruption im Land aufzuräumen.
Viele Schuldige
Am Zustand in der Ukraine gebe es viele Schuldige, an erster Stelle natürlich Russland, Kiew, aber auch Europa habe Teilschuld. Es habe schon bei der Orangenen Revolution 2004 bei Julija Timoschenko und Ex-Präsident Wiktor Juschtschenko „nicht genau hingeschaut“. Die Orangene Revolution sei für Putin ein Schock gewesen. Das könnte auch in Moskau passieren, fürchte er seither. Stuchlik versucht sich in einer „wertneutralen“ Analyse, warum Russland ein Interesse an einer destabilisierten Ukraine hat.
Russland würde wirtschaftlich viel verlieren. In der Sowjetunion sei Industrie in die Republiken ausgelagert worden, in die Ukraine vor allem die Waffenindustrie – „70 Prozent der Waffenexperten sind hier“ – und Weizenanbau. Zudem liegt die gesamte Schwarzmeerflotte auf der Krim, im Hafen von Sewastopol, der ukrainischen Flotte gegenüber. Das einstmals entspannte Verhältnis auf der Krim, die Haser treffend einen „Melting Pot“ nennt, ging zeitweise so weit, dass bei einem Interview Stuchliks mit dem russischen Flottenkommandeur dieser seinen ukrainischen Kollegen per Handy dazu gebeten habe. Bei der Invasion der Krim – „natürlich waren das russische Soldaten“ – sei es deshalb auch zu absurden Szenen gekommen. „Die haben sich ja gekannt“, die Soldaten beider Armeen seien in benachbarten Kasernen untergebracht gewesen.
Stuchlik hat mit einem Monitor-Beitrag, der nach der Eskalation am sogenannten „Schwarzen Donnerstag“ beleuchten sollte, wer auf wen geschossen hat, viel Staub aufgewirbelt. Moskau kürzte die Dokumentation so drastisch, dass sie eigener Propaganda dienlich war. Nicht nur, dass das eine Programmbeschwerde nach sich zog, die Stuchlik weniger belastet, sondern vielmehr, dass sich Leute, mit denen er vor Ort lange Zeit zusammengearbeitet hat, von ihm abwandten. „Ich hab die Tragweite unterschätzt“, bekennt der Redakteur, sichtlich noch immer betroffen.
Der mit zwei Liberty-Awards und einem Grimme-Preis Ausgezeichnete, dem journalistische Verantwortung viel bedeutet, betont den Wert des subjektiven Blicks aus dem Krisengebiet. Und bricht eine Lanze für die öffentlich-rechtlichen Sender. „Das Korrespondentennetz, das sie unterhalten, ist teuer aber sehr wichtig.“ Denn keine Agenturmeldung, die von offizieller Stelle komme, ersetze den Menschen, der vor Ort dabei ist. Er schaue gern Fußball, aber die Priorität die die WM in den Medien genießt, die viele „Rundrum-Berichterstattung“, kann ein investigativer Journalist wie er angesichts der weltweiten Konfliktherde nicht nachvollziehen.
Der Talk im Bock hat bis zur 154.Veranstaltung insgesamt 513710 Euro für gute Zwecke gesammelt. Die Saalspende von 470 Euro bei der 155. Veranstaltung ist für „Memorial“ in Russland gedacht. Die Gesellschaft entstand 1988 in Russland, um die Stalinzeit aufzuarbeiten. „Es ist die kritische Institution, die den kritischen Geist, den Russland braucht, darstellt“, sagt Stuchlik.