Leutkirch / sce - Seine erste Nacht in Deutschland hat er unter freiem Himmel verbracht: In Kehl, hinter der Kirche. Angeblich fehlte ein Stempel im Pass, man wollte ihn nicht weiterreisen lassen. „Es war so kalt dort“, erinnert sich Miguel Parrado, als wäre es gestern gewesen. Dabei sind mittlerweile exakt 50 Jahre vergangen: Seit dem 31. August 1964 lebt der Spanier in Leutkirch und sagt: „Ich bereue keine einzige Minute.“ Die Geschichte einer erfolgreichen Integration.
Gerade mal 18 Lenze zählt der junge Mann, als er in Barcelona „mit einem Köfferle“ in den Bus steigt. In der Nähe von Sevilla ist er aufgewachsen, hat Friseur gelernt bei seinem Vater, bei Betis Sevilla Fußball gespielt und beim FC Barcelona, wo sogar eine Profikarriere winkt. Doch die politische und wirtschaftliche Lage im Spanien der 60er-Jahre verspricht ihm keine Zukunft in seinem Heimatland. Die Mutter ist schon in Deutschland, alle drei Schwestern folgen später, nur der Vater bleibt in Sevilla zurück.
Hoffnung auf ein besseres Leben
Eineinhalb Tage dauert die Fahrt, in Ulm will ihn seine Mutter abholen. „Meine Mama war bei Textil Zorn in Leutkirch beschäftigt“, blickt Miguel Parrado zurück. „Sie hat mir dort ebenfalls einen Job besorgt.“ So kommt er, nachdem die Sache mit den Papieren schließlich geklärt ist, mit einem Tag Verspätung ebenfalls im Allgäu an. Ohne ein Wort deutsch, ohne Freunde und Bekannte, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. „Ein bis zwei Jahre“ will er bleiben, und dass es anders kommt, liegt nicht zuletzt an Antonie, Toni genannt. Die gebürtige Leutkircherin lernt er an seinem zweiten Arbeitsplatz bei der Firma Thermopal kennen, doch bis zur Hochzeit sieben Jahre später gibt es noch einige Hürden zu überwinden. „Meine Eltern waren nicht begeistert“, sagt Toni Parrado über die Anfänge ihrer Beziehung. „Ich bin von allen Seiten schief angeschaut worden.“
„Es gab damals schon ein gewisses Misstrauen gegen Ausländer“, ergänzt ihr Mann. „Da ist es durchaus vorgekommen, dass beim Einkaufen das Personal hinter uns hergelaufen ist, um zu schauen, ob wir auch nichts einsacken.“ Etwa 300 bis 400 Spanier lebten in den 60er-Jahren in Leutkirch, später sogar um die 600, schätzt Miguel Parrado und meint: „Wir waren halt gut für die minderen Arbeiten.“ Er selbst hat allerdings ziemlich viel Glück gehabt, wie er findet: Lernt Schweißer, macht später eine Lehre als Bauschlosser bei der Firma App, bekommt mit seiner Frau drei Kinder und hat mittlerweile ein Enkelkind, ist Gründungsmitglied, aktiver Fußballer und lange Jahre Trainer beim FC Unterzeil, übersetzt bis heute für seine spanischen Landsleute und wird auch von der Polizei gern als Dolmetscher gerufen.
Ansonsten, räumt er in bestem Allgäuerisch ein, „schwätz’ i eigentlich mit niemand me spanisch.“ Außer natürlich, wenn er die wenigen in Leutkirch verbliebenen Spanier trifft oder zahlreiche Verwandtschaft in der spanischen Heimat besucht. „Ein bissle zerrissen bin ich schon“, räumt Parrado ein. Seine ursprüngliche Staatsbürgerschaft hat er als stolzer Spanier bis heute behalten. Trotzdem ist er längst ein Leutkircher geworden: „Man kann mit ihm kaum durch die Stadt laufen“, sagt seine Frau. „Er kennt jeden.“ Wie er sein 50-Jahr-Jubiläum in Deutschland feiert? Den Plan hat er schon seit Wochen im Kopf: „Am 30. August fahren wir zusammen nach Kehl. Den Platz hinter der Kirche würde ich sofort wieder finden.“ Es muss ja nicht bei Nacht und Kälte sein.