Quantcast
Channel: Schwäbische: Feeds: Trossingen
Viewing all articles
Browse latest Browse all 8808

Leutkircher Messerstecher wollte nicht töten

$
0
0

Leutkirch / sig - Der Prozess gegen einen 22-jährigen Georgier aus Leutkirch hat am Mittwoch vor der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Ravensburg begonnen.

Ihm wird versuchter Mord vorgeworfen. An einem frühen Februar-Morgen dieses Jahres hatte der Angeklagte im Streit und unter Alkohol (1,35 Promille) einen Kontrahenten (1,88 Promille) mit einem Küchenmesser am Hals verletzt, anschließend gegen seine Festnahme rebelliert sowie Polizeibeamte bespuckt und beleidigt.

Außerdem soll er alkoholisiert an einem anderen Tag in einer Leutkircher Gaststätte randaliert und mit einem Schraubendreher einen Gast am Hals verletzt haben sowie im Besitz eines Schlagrings gewesen sein. In einer von seinem Anwalt verlesenen Erklärung räumte der Angeklagte zum Prozessauftakt den Hauptvorwurf ein. Töten habe er seinen Widersacher allerdings nicht wollen, ließ er hervorheben.

Den Messerstichen vorausgegangen war eine verbale Auseinandersetzung mit dem späteren Opfer und einem Zeugen, der zwischenzeitlich verstorben ist, in dessen Leutkircher Wohnung. Letzterer wies im Laufe des Streits den Angeklagten aus der Wohnung, woraufhin der in die nahe Wohnung seiner Adoptivmutter lief, sich ein Küchenmesser nahm und in Boxer-Shorts und T-Shirt in die Wohnung zurückkam, aus der er kurz zuvor verwiesen worden war. Dort fügte er dem Opfer mit dem mitgebrachten Küchenmesser drei Schnittwunden am Hals zu, die nicht lebensgefährlich waren.

Während sich der 22-Jährige aus der Wohnung wieder entfernte, fahndete die Polizei nach ihm und griff ihn kurz nach 5 Uhr auf. Gegen seine Festnahme wehrte er sich äußerst vehement und aggressiv. Nur mit Mühe konnten ihm die von ihm beleidigten und bespuckten Beamten Handfesseln anlegen. Der Angeklagte drohte auch, sie abzustechen. Selbst nach der vorläufigen Festnahme im Polizeirevier Leutkirch randalierte und beleidigte er.

In der Zusammenfassung wirft die Staatsanwaltschaft dem 22-Jährigen ein Verbrechen des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung, Vergehen gegen das Waffengesetz und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vor.

1992 in der georgischen Hauptstadt Tiflis geboren, starb die Mutter, als der Angeklagte ein Jahr alt war. Sechs Jahre später verließ ihn der Vater mit einer anderen Frau. Er wuchs bei der Großmutter auf, wurde adoptiert. 2001 musste er mit nach Deutschland übersiedeln. Ohne ein Wort Deutsch zu können kam er in die Schule, wurde gehänselt, verteidigte sich mit den Fäusten, flog wegen Schlägereien von zwei Schulen. Er galt als schwer erziehbar, war in Heimen, begann ein Berufsvorbereitungsjahr und eine Ausbildung zum Zimmermann. Das war nicht sein Traumberuf und die Ausbildung hatte sich erledigt, nachdem er 2009 wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt für zehn Monate inhaftiert wurde. Anschließend „ging gar nix mehr“. Einen Job zu finden, insbesondere aus dem Knast heraus, war nicht einfach. Drei Jahre lang hat der heute 22-Jährige nichts getan. Die Adoptivmutter – zu der er ein angespanntes Verhältnis hat – steckte ihm ab und zu etwas zu.

Der Mutter in den Bauch getreten

„Ich war schon immer ein Problemkind“, berichtet er dem Gericht. Wegen seiner Aggressivität habe ein Lehrer einen Aufenthalt im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) in der Weissenau vorgeschlagen. „Wenn ich wütend bin, sag‘ ich alles Mögliche“, antwortet er auf den Vorhalt, seiner Mutter in den Bauch getreten und gedroht zu haben „ich bring dich um“.

In den ersten Lebensjahren in Tiflis habe er noch keine gesundheitlichen Probleme gehabt, die seien erst in Deutschland aufgetreten (ADHS/Depressionen), sagt er. Von einem Psychologen habe er Medikamente erhalten, die nichts gebracht haben. Während seiner Depressionen habe er die „Wohnung nur zum Alkohol trinken verlassen“ und „keinen Bock zu nix“ gehabt. Der 22-Jährige hat Drogenerfahrung, hat „alles probiert außer Heroin“. Angefangen habe das mit 14, 15 Jahren. Alkohol? Jede Woche sei er dreimal betrunken gewesen, räumt er ein, 20 Tage berauscht im Monat, sei das Minimum gewesen: „Wenn ich Geld (von der Adoptivmutter) hatte, habe ich getrunken“, aber nie zuhause, immer „draußen mit den Kollegen, Bier und Wodka“. Allerdings sei er nicht süchtig, „verstehen Sie, was ich meine?“, fragte er immer wieder den Kammervorsitzenden Jürgen Hutterer. Alkoholisiert hätten schon „Kleinigkeiten“ gereicht, ihn aggressiv werden und ausrasten zu lassen. Angelegt habe er es aber darauf nicht. „Ich hab‘ versucht, meine Probleme wegzutrinken“. Einen Plan für seine Zukunft hatte er nicht.

Traumjob im Knast

Seit der Tat im Februar in Untersuchungshaft scheint das anders zu sein. Er fühlt sich hinter Gittern besser als zuhause, was daran liegen könnte, hier einen strukturierten Ablauf zu erleben. Und: Er macht eine Lehre in seinem „Traumjob KFZ“. In Sachen Drogen/Alkohol habe er keinerlei Entzugserscheinungen, sagt er.

In seinem von seinem Anwalt vorgetragenen Geständnis beschönigt er nichts. Den Hauptvorwurf mit dem vorausgegangenen und sich hochschaukelnden Streit und dem Messereinsatz räumt er „vollumfänglich“ ein. Auch der Ausspruch „ich stech‘ einen ab“ könnte so gefallen sein, denn er sei emotional leicht reizbar, meint er. Zwar könne der Alkohol ihn in gewisser Weise „enthemmt“ haben, die Tat auf den Alkohol schieben will er aber nicht.

Die Wohnung der Adoptivmutter habe er verlassen, um auf einem nahe gelegenen Spielplatz von den Emotionen herunter zu kommen. Dann aber sei er in die Kontrahenten-Wohnung zurück, um mit dem den Streit von zuvor zu klären. Dass er ihn mit dem Messer am Hals verletzt habe könne sein, töten wollen habe er ihn aber nicht. Hätte er das vorgehabt, wäre ihm das auch gelungen, hätte ihn niemand davon abhalten können, er sei „Herr der Lage“ gewesen, habe in vollem Bewusstsein freiwillig aufgehört.

Der Staatsanwalt will wissen, ob er Verwandte in Georgien habe, wohin er könnte, würde er ausgewiesen? Eine entsprechende Entscheidung prüft derzeit das Regierungspräsidium. In Georgien habe er „keine Überlebenschance“, dort sei niemand, zu dem er könnte, sieht der 22-Jährige – der bisher mit einer sich jeweils verlängernden fünfjährigen Aufenthaltserlaubnis hier ist – seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland.

Der Prozess, zu dem ursprünglich 15 Zeugen und drei Sachverständige gehört werden sollten, ist auf insgesamt sechs Tage angesetzt. Durch das Geständnis könnte es zu einem früheren Ende kommen.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 8808