Leutkirch / osc - Die Württembergische Landesbühne Esslingen hat am Mittwochabend mit „Agnes“ von dem Schweizer Autor Peter Stamm das Leutkircher Theaterprogramm eröffnet. Vor 500 Theaterbesuchern, davon etwa 300 Schüler (Agnes ist Pflichtlektüre an Gymnasien), boten die beiden Darsteller Caroline Betz (Agnes) und Ralph Hönicke (Schriftsteller) unter der Regie von Annette Dorothea Weber großartige Theaterkunst und setzten die Handlung der Bühnenfassung in einem dichten und packenden Spiel um.
Das Ganze vor einer stimmig durchdachten kühlen Kulisse, ausgestattet von Julia Schiller mit weißen durchbrochenen Flächen, die Innen und Außenraum sein können, einmal Bibliothek, die Wohnung von ihr, dann von ihm, dann auch mal ein Café oder als Projektionsfläche eine Landschaft.
Es geht inhaltlich um den Beginn, die Entwicklung und das Ende einer Beziehung, dabei auch um die Themen Liebe und Tod, Nähe und Fremdheit, Freiheit und Verantwortung. Dabei tritt der männliche Darsteller als distanzierter Erzähler und Handelnder zugleich in Erscheinung, der zunächst über den Ereignissen zu stehen scheint und rechthaberisch den Schreib- und Handlungsablauf bestimmen will.
Viel facettenreicher ist die Rolle von Agnes, die mehrere Seiten des Daseins zu bewältigen hat: zunächst schüchtern, lieb, verführerisch, anhänglich, dann hin und her gerissen zwischen Depression, Trauer und Hyperaktivität. Wenn das Stück beginnt, ist alles schon passiert: Ein Schriftsteller trifft im Lesesaal einer Bibliothek eine junge Physikerin. Kaffee, Zigarette und ein paar Sätze auf der Treppe, später eine Verabredung zum Essen und eine gemeinsam verbrachte Nacht. Agnes ist fasziniert von seiner Schriftstellerei, und bittet ihn, ihre gemeinsame Liebesgeschichte aufzuschreiben. Und er erfindet die Frau an seiner Seite neu. Sie ziehen zusammen – weil er es geschrieben hat. Doch sie kommen sich nicht wirklich näher.
Eine rätselhafte Figur
Mit der Figur der Agnes hat Peter Stamm eine faszinierende und rätselhafte Figur geschaffen. Sozial isoliert lässt sie sich auf das Spiel des Ich-Erzählers ein. Erkennt sie, wann diesem seine Fiktion anfängt, wichtiger zu werden als die reale Geliebte? Etwas scheint auf Agnes zu lasten, obsessiv will sie alles über das Leben und seine Begrenzungen wissen, wobei sie immer wieder auf den Tod zu sprechen kommt. Und so ist sie von dem Wunsch beseelt, ihre eigene Geschichte am besten schon vorab zu überblicken.
Halbherzig wehrt sich der Ich-Erzähler zunächst, doch bald schon erliegt er dem Reiz, nicht nur eine Geschichte, sondern auch Agnes nach seinem Willen und Wunsch zu formen. Was nicht gelebt werden kann, soll wenigstens geschrieben werden. Agnes wird ungeplant schwanger. Es kommt zur Trennung, und sie verliert das Kind. Er versucht zu korrigieren, schreibt über eine gemeinsame Zukunft mit Kind. Die konstruierte vorauserfundene Beziehungsebene löst sich immer weiter von der Wirklichkeit, es kommt zu einer wechselvollen Verzahnung von Erzählung, realer und fiktiver Handlung, wo selbst die Wirklichkeit sich in Wunschvorstellungen verliert.
Sie ziehen wieder zusammen, nichts scheint mehr zu gelingen, Heilig Abend wird zu einem deprimierenden Fest. Agnes wird wieder krank, sie will nicht, dass die Geschichte zu Ende geschrieben wird. Aber er arbeitet in den nächsten Tagen wie besessen an einem neuen Schluss, in dem Agnes allein in der Kälte ist, und der für ihn der einzig mögliche ist.
Ein Sog unerbittlicher Trauer
Die Zuschauer werden dabei gerade auch wegen der distanzierten und unterkühlten Sprache, verstärkt durch die pulsierenden, reibenden Klänge einfacher Melodien in einen Sog unerbittlicher Trauer gezogen, die das kommende Unheil erahnen lässt. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zerfließen, bis einer der beiden Darsteller daran zerbricht. Als er nach einer Silvesterparty am frühen Morgen die Wohnung betritt, sieht er gleich, dass Agnes am Computer das heimlich verfasste andere Ende der Geschichte gelesen hat. Darin erfriert sie im Wald. Agnes ist verschwunden und ihr Wintermantel hängt nicht an der Garderobe. Der Ich-Erzähler sucht nicht nach ihr. Das Stück endet abrupt.
Obwohl Agnes sich immer wieder mit Tod und Sterben beschäftigt, bleibt am Ende offen, ob sie der Geschichte folgend tatsächlich stirbt oder nur aus der Geschichte und dem Leben des Ich-Erzählers aussteigt. Abwechslungsreicher Szenenwechsel, der Wechsel zwischen Wirklichkeit und Fiktion, klares und ausdrucksvolles Spiel der Schauspieler vor einer ansprechenden Bühne haben diesen Abend zu einem fesselnden Theaterabend gemacht, der auch verdientermaßen viel Beifall vom Publikum erhalten hat.